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17. November 2018Auf den ersten Blick mag den Betrachter erst einmal die reine Größe des Kruzifixes im Chor der Stiftskirche beeindrucken – es ist über 6 m hoch. Auf den zweiten Blick der ausgesprochen natürlich dargestellte Korpus des gekreuzigten Jesus. Wenn man dann noch erfährt, dass es aus einem einzigen Steinblock gehauen wurde, ahnt man, dass es mit diesem Kunstwerk etwas Besonderes auf sich hat. Im Vortrag Ende Oktober von Heike Kronenwett, Leiterin des Stadtarchivs und Stadtmuseums, konnten Interessierte das bedeutende Kunstwerk näher kennenlernen.
Etliche Zuhörer hatten im feingeschnitzten Chorgestühl und auf den bereitgestellten Stühlen Platz genommen, mit Sicht auf das Kreuz. „Man hätte kaum einen besseren Aufstellungs- und Ausstellungsort als die Stiftskirche finden können“, befand Heike Kronenwett anerkennend. Später wird sie von der herausragenden Leistung erzählen, das zwei Tonnen schwere Kunstwerk vor rund 50 Jahren vom ehemaligen Stadtfriedhof in die Stiftskirche umzuziehen. Nachdem es 500 Jahren Wind und Wetter ausgesetzt war und, neu dazugekommen, immer mehr Abgasen, entschied man, es an einen geschützten Ort zu bringen.

Heike Kronenwett erklärt den vielen interessierten Besuchern die Geschichte des Kreuzes und des Umzugs.
Das Stifterwappen am Sockel
Aufgrund eines in den Sockel hineingemeißelten Wappens konnte man den Stifter des Kunstwerkes identifizieren. Der Vergleich mit weiteren Kunstwerken, die dieser große Kulturförderer Baden-Badens in Auftrag gegeben hatte, ergab, dass es der Arzt Hans Ulrich der Scherer gewesen war. Der Künstler hingegen ist mit seinem Namen in Stein gemeißelt: Niclas Gerhaert van Leyden.
Mit alten Stadtplänen und Zeichnungen illustrierte Heike Kronenwett, wie sich Stadtgeschichte und Geschichte des Kreuzes verbanden. Beispielsweise entwickelte sich der alte Friedhof bei der Spitalkirche zum Anziehungspunkt vieler Kunstfreunde – von Gustave Courbet ist eine Zeichnung des Kreuzes von 1859 erhalten.
Ein großer Künstler tritt in Erscheinung
Niclas Gerhaert van Leyden tritt erstmals 1462 in Erscheinung, und zwar als Künstler des Grabmals des Erzbischofs von Trier Jakob von Sierck (die Deckplatte ist erhalten). Danach arbeitete er in seiner eigenen Werkstatt in Straßburg und schuf unter anderem das Portal der Alten Kanzlei in Straßburg und das (erhaltene) Epitaph des Prälaten Bussnang im Straßburger Münster. Er wurde für seine Arbeiten sehr gut bezahlt – was beweist, dass er schon zu Lebzeiten geschätzt wurde.
Das Baden-Badener Kruzifix setzt neue Maßstäbe

Auch Pfarrer Michael Teipel gibt einen Impuls zum Kreuz.
1467 schuf er dann das Baden-Badener Kruzifix aus einem einzigen Steinblock – eine Arbeit von mehreren Monaten. Die vielfach gewundene steinerne Dornenkrone ist ebenso ein Meisterwerk der Bildhauerei wie der im Wind auseinanderflatternde Lendenschurz, so Kronenwett. „Teilweise nur wenige Millimeter stark, ist der Künstler hier an die Grenze des Machbaren gegangen“. Das Revolutionäre für die damalige Kunstauffassung war aber die bis dato unbekannte naturnahe Darstellung. Eine Haut wie aus Pergament, hervortretende Muskeln und Adern, durchbohrte Hände und Füße – die Realität wird auch in aller Brutalität gezeigt. Als Gefolteter und als triumphierender Sohn Gottes sei Jesus dargestellt. Mit diesem Kruzifix setzte Niclas Gerhaert von Leyden neue Maßstäbe. Nachfolgende Künstler übernahmen seinen Formenkanon.
Vom Kaiser Friedrich III. umschwärmt
Kaiser Friedrich III. forderte ihn zweimal auf, zu ihm nach Wien zu kommen – Niclas Gerhaert von Leyden erlaubte sich, erst dem zweiten Ruf zu folgen. Er beauftragte ihn bereits 30 Jahre vor dessen Tod, sein Grabmal zu schaffen. Zunächst einmal fertigt von Leyden allerdings das Grabmal für dessen Frau an, die kurz nach seiner Ankunft verstirbt. Sein Grabmal für Friedrich III im Wiener Stephansdom gilt heute als eines der bedeutendsten plastischen Kunstwerke des Spätmittelalters überhaupt. Vollendet 1473, ist es allerdings auch das letzte bezeugte Werke des großen Künstlers, der die spätgotische Skulptur revolutioniert hat.
Übrigens, so erzählt Heike Kronenwett weiter, war es eine Schwester dieses Kaisers, Katharina von Österreich, die, verheiratet mit einem badischen Markgrafen, 1473 bei einem Besuch in Baden-Baden der Stiftskirche Liebfrauen einen spätgotischen Messkelch schenkte – der „Katharinenkelch“.
Das Trennende und das Verbindende im Kreuz

Viele interessierte Zuhörer lauschten den beiden Vorträgen und diskutierten anschließend gemeinsam.
Pfarrer Michael Teipel, der „sich sehr beschenkt fühlt“, dieses Meisterwerk beherbergen zu dürfen, fügte dem Vortrag von Heike Kronenwett noch einige spirituelle Impulse hinzu. Ist das Kreuz noch aktuell – wäre nicht ein Symbol mit mehr Lebensfreude besser geeignet, das Christentum zu versinnbildlichen? Pfarrer Teipel führte weiter aus, man könne die trennende Qualität des Kreuzes wahrnehmen – im Wettstreit der Religionen oder im Sündenbockbild „Besser einer stirbt, als das alle draufgehen“ – oder sich der verbindenden Kraft zuwenden. Denn das Kreuz verbinde vertikal Himmel und Erde und horizontal die Menschen. Und es halte Jesus. „Jesus wurde vom Kreuz gehalten. Zwischen Himmel und Erde und zwischen uns Menschen.“ Und so können auch wir uns festhalten am Kreuz, Orientierung finden, gerade auch in schweren Zeiten.